Der Aufbau einer wertschätzenden Unternehmenskultur kann eine der lang ersehnten Antworten auf die Frage sein: Wie gewinnen und halten wir die dringend benötigten Fachkräfte? Denn Unternehmen, die Empowerment und Inclusion leben, haben einen Wettbewerbsvorteil.
Als Berater_innen arbeiten wir für Unternehmen aus den unterschiedlichsten Branchen. Ein Problem begegnet uns fast ausnahmslos: der Fachkräftemangel. Für die Unternehmen ist es unglaublich schwierig, alle Stellen zu besetzen. Eine Entwicklung, die sich in den 14 Jahren unserer Beratungstätigkeit massiv verschärft hat.
Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit werden jährlich 400.000 Fachkräfte benötigt. Am stärksten betroffen sind Unternehmen aus dem Handwerk, aus der Metall- und der Elektroindustrie sowie aus dem MINT- und Gesundheitsbereich. Das können Personaler_innen aus nahezu allen Branchen bestätigen: Der Markt ist leergefegt.
Die Zahlen sprechen für sich
Anfang August 2022 meldete das Ifo-Institut: „Der Fachkräftemangel erreicht in Deutschland einen neuen Höchststand. Im Juli waren 49,7 Prozent der Unternehmen beeinträchtigt.“ Die Folgen für die Wirtschaft sind dramatisch. Mehr als die Hälfte der deutschen Unternehmen sehen im Fachkräftemangel eine Bremse für ihre Geschäftsentwicklung. Zum Vergleich: 2010 sahen das nur 16 Prozent so.
Das Dramatische an der Situation: Die Binnenmigration innerhalb der EU wird nicht ausreichen, um den enormen Bedarf zu decken. Auslöser sind der demographische Wandel und die geburtenstarken Jahrgänge, die dem Arbeitsmarkt demnächst in großer Zahl nicht mehr zur Verfügung stehen. Aber auch der technologische Wandel wirkt sich auf den Arbeitsmarkt aus. Bis 2030 wird sich das Tätigkeitsprofil von mehr als einem Drittel (35 Prozent) aller Berufe grundlegend verändern.
Die Bundesregierung hat kürzlich ihre Fachkräftestrategie vorgestellt, die genau hier ansetzen soll. Eine Maßnahme zur Linderung des Fachkräftemangels soll die Integration ausländischer Arbeitskräfte sein. Dies ist jedoch mit einer Vielzahl von Herausforderungen und Unsicherheiten verbunden. Hinzu kommen die Folgen der Corona-Pandemie und des Krieges in der Ukraine, die die Wirtschaft in Atem halten. Aber auch ohne diese Faktoren sind die Herausforderungen, Fachkräfte zu gewinnen und sie dann im Unternehmen zu halten, sehr groß. Hier lohnt es sich einen Blick auf die Unternehmenskultur zu werfen.
Wer Fachkräfte aus dem Ausland will, braucht eine Willkommenskultur im Unternehmen
Das Ziel aller Aktivitäten muss sein: Wir wollen eine Umgebung schaffen, in der sich alle wohlfühlen – auch die neuen Kolleg_innen aus dem Ausland. Hier ein paar erste Ideen:
Maßnahmen für neue Fachkräfte
- Unterstützung bei organisatorischen Aufgaben wie Behördengängen und Wohnungssuche durch eine Assistenz aus dem Unternehmen, um die zeitaufwändigen und vor allem für zugewanderte Fachkräfte schwer durchschaubaren Prozesse bestmöglich zu bewältigen.
- Aufbau von Kompetenzen, die neue Fachkräfte und ihre Begleitpersonen benötigen, um sich in Deutschland zurechtzufinden, wie z.B. Unterstützung beim Erwerb interkultureller Kompetenz, beim Spracherwerb und bei der Vorbereitung auf das Leben in Deutschland.
- Weiterqualifizierung zur optimalen Vorbereitung auf den deutschen Arbeitsmarkt.
- Gezielte Unterstützung bei der Integration in das Unternehmen durch passgenaues Onboarding.
- Berücksichtigung der familiären Situation und ggf. Unterstützung beim Ankommen der mitreisenden Familie in Deutschland.
Maßnahmen für die Belegschaft
- Vorbereitung der eigenen Mitarbeitenden mit Fokus auf interkultureller Kompetenz.
- Integration als gegenseitigen Annäherungs- und Wachstumsprozess verstehen, der möglichst von allen Mitarbeitenden im Unternehmen getragen werden muss.
- Sobald die Fachkraft da ist: Teambuilding mit den Mitarbeitenden, indem der Dialog gefördert wird und Gemeinsamkeiten durch gemeinsame Erlebnisse gefunden werden sowie ein persönliches, kulturelles und fachliches Kennenlernen stattfinden kann.
- Den Mitarbeitenden zuhören, Ängste und Vorbehalte ernst nehmen und darauf eingehen.
Unternehmensweite Maßnahmen für eine offene Unternehmenskultur
- Unterstützung der Recruiting-Bemühungen durch eine Organisation, die Kolleg_innen aus anderen Ländern aufnimmt und ihnen durch Inklusion vermittelt, dass sie willkommen geheißen, angenommen, wertgeschätzt und einbezogen werden.
- Anerkennung und Wertschätzung von kultureller Vielfalt, z.B. unterschiedlicher Weltanschauungen oder Arbeitsgewohnheiten.
- Unternehmensweite Maßnahmen und Schaffung von Räumen für Austausch, die interkulturelle Kompetenzen und gegenseitiges Verständnis stärken, z.B. durch unternehmensweite Veranstaltungen, Austausch von Best Practice-Beispielen, gemeinsame Feiern, Allies, Netzwerke, Programme mit Mentees aus dem Ausland und Mentoren aus dem Management etc.
- Kultur als eine Facette von Diversity & Inclusion verstehen, um Synergien mit anderen Diversity-Dimensionen zu schaffen und z.B. auch Frauen, Ältere oder Menschen mit Behinderung willkommen zu heißen.
Jenseits der Komfortzone entstehen ungeahnte Synergien
Meiner Erfahrung nach sind es die Unternehmen mit mutigen Entscheider_innen, die im sogenannten ‚War for Talents‘ die Nase vorn haben. Denn um Menschen jenseits der bisherigen Zielgruppen für sich zu gewinnen, müssen Unternehmen neue Wege gehen, ohne die bestehende Belegschaft zu verprellen.
Das bedeutet, Menschen einzustellen, die nicht hundertprozentig dem Anforderungsprofil entsprechen, weil sie z.B. andere Abschlüsse als in Deutschland üblich mitbringen, Berufserfahrung in anderen Kontexten gesammelt haben oder über ihre Ausbildung hinaus wertvolle Kompetenzen erworben haben. Und natürlich bedeutet es, sich auf Sprachen, Kulturen und Religionen einzulassen, mit denen man bisher wenig Berührung hatte. Die meisten ausländischen Fachkräfte in Deutschland aus anderen EU-Ländern kommen aus Rumänien, Polen, Bulgarien, Italien und Kroatien. Aus Drittstaaten sind Menschen aus Indien, der Türkei, den USA, Serbien und China am häufigsten vertreten, wie der Fachkräftemigrationsmonitor 2021 der Bertelsmann Stiftung zeigt.
Für viele bedeutet das, die Komfortzone zu verlassen. Man muss Englisch sprechen, sich auf neue Arbeitsweisen einlassen oder lernen, zwischen den Zeilen zu lesen. Aber das Unternehmen und jeder Einzelne gewinnt: Jenseits der Komfortzone beginnt das Lernen und es entstehen ungeahnte Synergien.
Best Practice bei Thorlabs: Mit Mut zur Vielfalt dem Fachkräftemangel begegnen
Als positives Beispiel für eine wertschätzende Unternehmenskultur möchte ich das Technologieunternehmen Thorlabs aus der Laserbranche nennen. Es beschäftigt zu 23 Prozent Mitarbeitende mit ausländischem Pass aus 38 Ländern. Bei einer Unternehmensgröße von rund 400 Mitarbeitenden in Deutschland bedeutet dies, dass fast jeder Vierte keinen deutschen Pass hat. Das ist ein unglaublich hoher Anteil – der Durchschnitt liegt je nach Branche bei etwa jedem Achten.
Maßnahmen, die Vice President Europe Bruno Gross und Director People Europe Carolin Wolke ergriffen haben, um eine Willkommenskultur mit Leben zu füllen, sind zum Beispiel
- stärkenbasierte Führung: trotz der überschaubaren Größe gibt es ein Führungskräfteentwicklungsprogramm für Nachwuchskräfte, für das stärkenbasiert ausgewählt wird – also z.B. auch Menschen in Teilzeit
- hierarchieübergreifender Austausch: es werden Initiativen gefördert, bei denen nicht die Arbeit, sondern der persönliche Austausch im Vordergrund steht (Go-Kart-Rennen, regelmäßige Team-Essen mit Budget, Sommer- und Weihnachtsfeiern, Schritte-Wettbewerb)
- individuelle Lösungen: muslimische Kolleg_innen werden unterstützt, sich freitags zum Gebet zu treffen und in die nahe gelegene Moschee zu fahren
Diese Bemühungen für eine offene Unternehmenskultur schlagen sich übrigens auch in einem beachtlichen Frauenanteil nieder: Sowohl in der Belegschaft als auch sogar in der Führung sind 42 Prozent Frauen vertreten.
Diese beachtliche Leistung haben wir am 12. Oktober 2022 auf unserer Synergiewerkstatt #35: ‚Mit Mut zur Vielfalt dem Fachkräftemangel begegnen‘ im Netzwerk ‚Synergie durch Vielfalt‘ vorgestellt: Gemeinsam mit dem Gastgeber Thorlabs stellten wir Best Practice-Beispiele – unter anderem von Airbus – vor und tauschten uns mit Vertreter_innen diversity-bewegter Unternehmen aus. Gemeinsam entwickelten wir innovative, weiterführende Lösungsansätze.
Fazit
Die Herausforderungen des Fachkräftemangels sind vielfältig und unterscheiden sich je nach Unternehmen, Branche und Region. Das Ziel ist es, Einstellungen und Unternehmenskultur zu verändern. Wenn man selbst noch nicht so mutig ist, hilft es, sich anzuschauen, wie andere – z.B. Thorlabs – dies bereits erfolgreich tun, um daraus die richtigen Schritte und Maßnahmen für sich abzuleiten.
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